Von gestern auf heute sind an dem trotzigen Baum vor meinem Balkon alle Knospen weit aufgesprungen. Ich habe diese Wohnung von Anfang an geliebt, obwohl ich mir, als ich Anfang 2012 hier eingezogen bin, gar nicht vorstellen konnte, dass/wie Leben noch geht, nach Jahrzehnten plötzlich ohne meinen Mann und ganz alleine. Drei Monate später habe ich dein Bild im Internet gesehen und mich neu verliebt. Mein Mann war erstaunt, als er dich zum ersten Mal traf, ich hatte immer große schwarze Hunde. Aber ich wohnte nun im 3. Stock, es musste ein Hund sein, der das (mit mir) schafft. Mit meiner Jule habe ich im Erdgeschoß gewohnt, es war von Anfang an klar, dass ihre Gelenke eine Schwachstelle sein würden. Zehn Jahre eine schöne, aber dunkle Wohnung, es war eben auch klar, dass mich für sie entscheiden bedeutete, mich für sie und die, die sie war und das, was sie brauchte zu entscheiden. Hunde sind (wie Kinder?) ganz entsetzlich abhängig von uns, auch das war mir früh, aber erst eher dunkel (ich habe es getan, ohne nachzudenken) und bei dir dann ganz klar. Und ich hatte mich eben in genau dich verliebt.
Das Besondere an der Wohnung ist, dass mitten in dieser großen Stadt nur Bäume um mich sind, wenn ich aus dem Fenster sehe, und eine Kirche. Häuser sind kaum und nur stückweise zu sehen, ich habe nie Vorhänge gebraucht oder gewollt. Und sobald der Frühling kommt, sind da nur noch Baumspitzen und die Kirche, das drei Mal am Tag lärmende Ding. Einmal haben sie sie renoviert und verdeckt, 2015 glaube ich, verhüllter Katholizismus sozusagen.

Und ich liebe auch dieses Viertel, das im Frühling unter einer Decke aus Blumenduft liegt, mitten in dieser großen Stadt. Und nur wenige Menschen auf den kleinen Straßen, (fast) alle freundlich, wenn sie dich gesehen haben eh: Du hast immer und immer wieder Lächeln in ihre Gesichter gezaubert, mein kleiner Clown, und in meines eh. Und gestrahlt habe ich jedes Mal, wenn du am anderen Ende der langen Leine vor mir hergelaufen bist, Kopf oben, und die Leine ist irgendwo durch deinen Schwanz gefallen, der auch immer oben war, wenn du draußen warst, bis zu deinem vorletzten Tag noch. Tausende Male sind wir so gelaufen, du vorn, ich hinten. Es tut mir so leid, dass ich diesen Moment nie in einem Foto festzuhalten versucht habe, er war so alltäglich. Und ich würde weinen, wenn ich es sehe.
Ohne Leine ist ab irgendwann nichts mehr gegangen, grad so wie Alleinsein nicht, und wohl auch ein Tribut an deinen schlimmen Start. Knallen, Gewitter, Silvester hast du gefürchtet. Furcht ist zu wenig, du warst PANISCH. Alle Versuche, dich mit langsam lauter werdenden Tonbandaufnahmen daran zu gewöhnen, sind kläglich gescheitert, du kluger Hund, ich dummer Mensch: Tonband ist Tonband und nicht die große und manchmal für dich so gefährliche Welt draußen. Und wie die Wildschweine, die du lange vor mir gesehen und gerochen hast, hast du das Gewittergrollen lange vor mir gehört. Und bist gegangen. Wie oft bin ich schreiend hinter dir her gerannt im Wald, du hast dich meist nicht mal nach mir umgedreht, bist zurück auf den Parkplatz, so schnell du nur konntest, und du konntest schnell. Und da hast du dann gestanden, auf der Straße und wedelnd, bis ich endlich schnaufend bei dir war. Einmal, als die Angst zu groß war, habe ich grade noch verhindert, dass du in ein fremdes Auto gestiegen bist. Auch Silvester wolltest du nicht in meinen Arm, nicht auf mein Bett, sondern hast dich darunter verkrochen.

Hab mich neben dich gesetzt und wurde erst ein bisschen ruhiger, wenn du ein Leckerli angenommen hast, weil ich wusste, dass du dann auch ruhiger warst. So haben wir Silvester und die Tage davor und danach verbracht, viele Jahre lang. Manchmal sind wir auch geflüchtet, in ein Hundehotel, weit weg. Nur im letzten Jahr hast du scheints nicht mehr gut gehört und wolltest plötzlich morgens um drei Uhr mit mir auf die Straße. Du und ich, morgens um drei in der Silvesternacht draußen.
Auch das Schlangenköpfchen auf deinem Grab wächst.

Für die Blumen hab ich noch kein Gefühl, jedes Mal bringe ich einen neuen Strauß, weil ich denke, die alten seien verblüht, und jedes Mal bin ich froh, dass der Friedhofsmann vorgesorgt hat für welche wie mich, mit Gießkannen und Vasen. Ein Messer hab ich mitgebracht, damit ich den Faden aufschneiden kann, der die Sträuße zusammenhält, und hab es neben eine der Vasen gesteckt, für den nächsten Strauß.
Und dann sitze ich da, vor deinem Grab, und dann kommt dieses Bild, dass du da unten liegst, in deiner Wolldecke. Und es tut furchtbar weh und ich muss gehn.